How Belgian geography professor helped to make visible Tigray’s invisible war.The Neue Zürcher Zeitung has published this interview (in German) with Professor Jan Nyssen

Jan 4, 2023 | News

«Wir haben jahrzehntelang Feldforschung gemacht in Dörfern, in denen dann Massaker verübt wurden»: wie ein belgischer Geografieprofessor einen unsichtbaren Krieg sichtbar machte

Jan Nyssen hat als Erster erhoben, dass im Tigray-Krieg eine halbe Million Menschen gestorben sein könnten. Er tat das mithilfe wissenschaftlicher Werkzeuge und mit Informationen von Menschen, denen er sich moralisch verpflichtet fühlte.

Samuel Misteli, Nairobi04.01.2023, 05.30 UhrHören

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Der Krieg hat in Tigray zu einer Hungersnot geführt, der Hunderttausende Menschen erlegen sind.
Der Krieg hat in Tigray zu einer Hungersnot geführt, der Hunderttausende Menschen erlegen sind. Ben Curtis / AP

Es ist etwas mehr als zwei Jahre her, da war Jan Nyssenein gewöhnlicher Geografieprofessor in Belgien. Er forschte zu Bodenerosion und Geomorphologie, unter anderem in den Schweizer Alpen. Es waren Themen, die ausserhalb von Fachkreisen selten Aufsehen erregen.

Dann brach im November 2020 Krieg aus in einer Gegend, die Nyssen gut kennt. Seit den 1990er Jahren hatte er in Tigray geforscht, einer Region mit sechs Millionen Einwohnern im Norden von Äthiopien. Nun lief dort eine Offensive des äthiopischen Militärs, die eine abtrünnige Regionalregierung entfernen sollte. Aus der Offensive wurde ein grausamer Bürgerkrieg.

Nyssen und sein Team hielten Kontakt zu Forschungspartnern und Bekannten in der Region. Sie begannen, den Krieg zu dokumentieren. Dazu nutzten sie ihre wissenschaftliche Werkzeugkiste: Satellitenbilder, Landkarten, Statistiken, Telefon-Interviews, wenn verfügbar auch soziale Netzwerke. Sie leisteten eine Arbeit, die Journalisten nur höchst eingeschränkt tun konnten, denn Tigray stand unter einer Blockade. Internet und Telefon waren meist unterbrochen, Recherchen in der Region liess die äthiopische Regierung nicht zu. So blieb der Krieg weitgehend unsichtbar.

Im Frühjahr 2022 veröffentlichte Nyssen eine Zahl, die aufhorchen liess: Bis zu 500 000 Zivilisten hätten in Tigray ihr Leben verloren. Die Zahl war viel höher als alle bis dahin genannten. Nyssen rechnete mit ein, dass in Tigray wegen der Blockade durch die äthiopische Armee eine Hungerkatastrophe stattfindet. Nyssen und seine zwei Dutzend internationalen Mitarbeiter waren die Ersten, die die Zahl der Opfer in Tigray dramatisch nach oben korrigierten. Inzwischen hat sich ihre Zählung durchgesetzt. Die amerikanische Uno-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte im Oktober vor dem Uno-Sicherheitsrat, eine halbe Million Menschen seien in Tigray getötet worden. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell sprach Mitte Dezember vom «blutigsten Krieg», bei dem zwischen 600 000 und 800 000 Menschen getötet worden seien.

Seit einem im November unterzeichneten Abkommen ruhen die Waffen in Tigray weitgehend. Doch der Frieden ist fragil und das genaue Ausmass des Krieges noch immer unklar.

Jan Nyssen.
Jan Nyssen.PD

Herr Nyssen, lange war im Tigray-Krieg die Rede von einigen tausend Getöteten. Nun reden wir von bis zu 800 000 Todesopfern. Wieso sprach man so lange von viel zu tiefen Zahlen?

Sehr lange wurden nur jene Opfer gezählt, die direkt getötet wurden, also etwa erschossen wurden oder bei Drohnenangriffen das Leben verloren. Gleichzeitig sagten zum Beispiel Uno-Vertreter, Hunger werde als Kriegswaffe gegen die Bevölkerung von Tigray eingesetzt. Diese Toten wurden aber nicht gezählt.

Sie haben in Ihren Schätzungen nicht nur Hungertote mitgezählt, sondern auch jene Opfer, die infolge der Zerstörung des Gesundheitswesens starben. Gab es Kritik, dass diese Art, zivile Opfer zu zählen, zu schwammig sei?

In den Medien oder bei internationalen Organisationen nicht. Dafür in den sozialen Netzwerken, wo ich von proäthiopischer Seite als «alter weisser Kolonialist» bezeichnet wurde, der Zahlen aus der Luft greife. Wir sind aber nicht die Ersten, die die Zahl ziviler Opfer auf diese Weise berechnen. Die Hilfsorganisation Oxfam hat vor ein paar Jahren in Jemen auf ähnliche Weise Opferzahlen erstellt. Auch im Osten von Kongo-Kinshasa wurden Zählungen mit ähnlichen Methoden gemacht. Laut diesen starben in Ostkongo Anfang der nuller Jahre fünf Millionen Menschen in einem Krieg, der ebenfalls kaum Beachtung fand.

Wie unterscheidet sich das Berechnen von Opferzahlen im Tigray-Krieg von jenem beim Krieg in der Ukraine?

In der Ukraine ist die Zahl der Beobachter viel grösser. Journalisten sind ganz in der Nähe der Kämpfe. Die sozialen Netzwerke sind nahe dran. Informationen dringen schnell nach draussen. Nehmen Sie das Massaker in Butscha: Gleich nach dem Abzug der Russen wurden Opfer gefunden. Bei Massakern in Tigray wären diese Leichen von Hyänen gefressen worden.

Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler

NZZ / urf.

Sie arbeiten seit 1994 in Äthiopien. Wie merkten Sie, dass Sie Ihre Forschungserfahrung nutzen konnten, um den Krieg in Tigray zu dokumentieren?

Als der Krieg ausbrach, telefonierten wir mit unseren Kontakten in Tigray. Wir erkundigten uns, ob alles in Ordnung sei, ob Kämpfe in ihren Orten stattgefunden hätten. Sie berichteten fast von Anfang an, dass Zivilisten getötet würden. Anfänglich hatten sie Angst, am Telefon darüber zu sprechen, sie fürchteten, abgehört und verhaftet zu werden. Doch die Berichte über Massaker häuften sich. Und wir beschlossen, die Informationen zu sammeln. Die Opfer zuerst zu zählen. Und dann auf Karten einzutragen.

Wieso auf Karten?

Sie erlauben uns, Dinge zu zeigen, die sonst unsichtbar blieben. Wenn wir zum Beispiel Angaben zu Tötungen von Zivilisten in Tigray auf eine Karte übertragen können – auf eine sogenannte Heatmap –, kann das Publikum damit viel mehr anfangen, als wenn wir einfach die Namen von Opfern auflisten. Ein anderes Beispiel: Wir können auf Karten räumlich zeigen, wie Massaker häufig auf Kriegshandlungen folgen: Verlieren Soldaten eine Schlacht, rächen sie sich oft am erstbesten Dorf, an dem sie vorbeikommen.

Nyssen und sein Team haben seit Beginn des Krieges mehrere Dutzend Publikationen veröffentlicht. Sie haben Informationen zu mehr als 400 Massakern an 8000 bis 15 000 Zivilisten zusammengetragen und auf Karten verzeichnet. Die Forscher berichteten mehrmals über Massaker, bevor die Medien das taten.

Sie haben auch Themen untersucht, die näher bei ihrem herkömmlichen Forschungsgebiet liegen. So dokumentierten sie mit Satellitenaufnahmen, dass zu Beginn der Anbausaison in Tigray wegen des Krieges viele Äcker nicht umgepflügt worden waren. Sie zeigten, dass die bewässerten Flächen an vielen Orten geschrumpft waren; an anderen Orten aber gewachsen – dort, wo der Krieg Landwirtschaft noch zuliess, Aktivitäten wie Bauarbeiten oder Kleinhandel aber zum Erliegen gebracht hatte.

Nach einem Luftangriff auf Mekele, die Hauptstadt von Tigray, versucht die Bevölkerung im Oktober 2021 zu retten, was zu retten ist.
Nach einem Luftangriff auf Mekele, die Hauptstadt von Tigray, versucht die Bevölkerung im Oktober 2021 zu retten, was zu retten ist.AP

Gab es einen Moment, in dem Sie das Ausmass dessen, was Sie erhoben, realisierten?

Es war ein Schock. Wir zögerten vielleicht eine Woche, bevor wir im März 2022 erstmals Zahlen veröffentlichten, es waren damals 270 000 bis 500 000 Tote. Wir diskutierten: Ist es wirklich möglich, dass 5 Prozent der Bevölkerung gestorben sind? Dass in jedem zweiten Haushalt jemand durch Hunger, Krankheit oder ein Massaker das Leben verloren hat? Haben wir einen Rechenfehler gemacht? Wir sprachen mit unseren Kollegen in Tigray, und es klang realistisch. Wir beschlossen, die Zahlen zu veröffentlichen.

Sie sitzen in Ihrem Büro in Belgien und zählen Hunderttausende von Toten in einer weit entfernten Weltgegend. Wie abstrakt fühlt sich diese Arbeit an?

Das ist nicht abstrakt, selbst wenn wir meistens keine Bilder der Getöteten sehen. Wir haben jahrzehntelang Feldforschung gemacht in Dörfern, in denen dann Massaker verübt wurden. Diese Leute waren keine engen Freunde, aber wir kannten sie. Wir machen unsere Arbeit auch, weil wir uns moralisch verpflichtet fühlen gegenüber diesen Leuten, die uns so oft bei unserer Forschung geholfen haben.

Wieso ist es wichtig, zu wissen, wie viele Leute in einem Krieg gestorben sind?

Diese Frage habe ich mir gar nie gestellt. Jedes Opfer ist eines zu viel, aber zehn Opfer oder Hunderttausende, das ist ein grosser Unterschied. Alle Aufmerksamkeit ist auf die Ukraine gerichtet, obwohl in Tigray etwa 60-mal so viele Zivilisten gestorben sind. Natürlich muss man das im Kontext betrachten: In der Ukraine besteht die Gefahr eines dritten Weltkriegs. Aber der Vergleich zeigt das Ausmass dessen, was in Tigray geschieht.

Dazu kommt: Wenn es nach einem Krieg zu einer Aussöhnung kommen soll, muss Klarheit herrschen über das Vorgefallene. Wenn keine Rechenschaft über Kriegsverbrechen und zivile Opfer gegeben werden muss, bricht ein paar Jahre später wieder Krieg aus.

Durchschnittliche Europäer interessieren sich viel stärker für den Ukraine-Krieg. Glauben Sie tatsächlich, es macht für sie einen Unterschied, zu wissen, dass in Tigray nicht Zehn-, sondern Hunderttausende Menschen gestorben sind?

Ich hoffe es, aber vielleicht bin ich naiv. Wenn ein Wirbelsturm durch eine amerikanische Kleinstadt fegt, Strassen überschwemmt und drei Leute umkommen, ist das überall in den Nachrichten. Über ein Massaker in Tigray berichten nicht einmal Medien wie die «Bild»-Zeitung, die von reisserischen Geschichten leben. Als der Krieg in der Ukraine begann, sagte unser belgischer Premierminister Alexander De Croo: «Wir müssen diesen Flüchtlingen helfen, es sind Leute wie wir.» Das heisst dann auch: Andere Leute sind nicht wie wir. Zum Beispiel die Leute in Afrika. So funktioniert es halt mit der Aufmerksamkeit.

Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Arbeit etwas erreichen?

Wenn ich darauf höre, was mir die Leute sagen: dann ja. Mein Bauchgefühl sagt mir eher: vielleicht, aber nicht genug. Wir erhalten viele E-Mails von Diplomaten und Mitarbeitern internationaler Organisationen, die uns bitten, sie auf unseren Verteiler zu setzen. Das tun wir. Aber was fangen sie mit der Information an? Ich höre oft, wir hätten vielleicht keinen Einfluss auf den Verlauf dieses Krieges, aber wir machten wenigstens bekannt, was passiere. Das ist immerhin etwas. Aber es reicht nicht.——

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